Die Vorstellung
von Karl Marx über die Religion als „das Opium des Volkes“ ist unter den linken
noch immer weit verbreitet. Bei der Analyse gesellschaftlicher Gegebenheiten
lassen linksgerichtete Kräfte oft die kulturellen Zusammenhänge und Zustände
außer Acht und gehen davon aus, dass eine „herrschende Klasse“ ihre eigenen
Vorstellungen dem Rest der Gesellschaft aufzwingt. So auch bei der Betrachtung
der Religion. Für Linke ist Religion ein gesellschaftlicher Fremdkörper, der
von der „herrschenden Klasse“ in die Venen der Gesellschaft reingepumpt wird.
Die große Mehrheit der Linken glaubt, wenn man Religion von Schulen und anderen
staatlichen Institutionen sowie von den Medien verbannen würde, würde die
Religion gänzlich verschwinden.
Dass diese
Vorstellung an der Realität vorbei geht, zeigt das Beispiel der ehemaligen
sozialistischen Länder, die nach dem Absturz des Sozialismus fast alle eine Wiederbelebung der Religion erfuhren. Laut einer Umfrage des „Levada Center“ (2011) bezeichnen sich 69% der Russen als Orthodoxe Christen und nur
22% sehen sich als Atheisten, während nur 27% der Franzosen und 28% der
Holländer laut Eurobarometer Poll 2010 an Gott glauben
Das, was zum
Erhalt der Religion oder zu ihrer immer wieder auftretenden Wiederbelebung beiträgt,
sind ihre kulturellen Wurzeln. Sogar bei den radikalsten Religionsgegnern
beobachtet man, wie stark sie selbst von religiösen Vorstellungen geprägt sind.
Zum Beispiel ist die Beschneidung von Jungen unter den iranischen Linken,
Religionsgegnern und Religionskritikern genauso weit verbreitet wie bei dem
Rest der iranischen Gesellschaft. Obwohl sie wissen, dass die Beschneidung von
Jungen im Iran mit dem Islam zu tun hat, machen sie sich keinerlei Gedanken darüber, ob
sie wirklich ihre Söhne diesem Ritual unterwerfen sollten oder nicht. Auch nach
jahrzehntelangem Leben im Westen wird die Beschneidung von Jungen von fast allen
Iranern respektiert und praktiziert.
Ein anderes
Beispiel, das zeigt, wie stark religiöse Vorstellungen Menschen kulturell prägen,
sind die Beileidsschreiben der iranischen Linken und Religionsgegnern bei
Todesfällen. Darin sprechen sie oft den Verstorbenen direkt an, mit den Sätzen
wie „Du weißt, wie sehr ich Dich vermisse“ oder „Erinnerst Du Dich daran, was
wir alles zusammen unternommen haben“, etc., obwohl sie an ein Leben nach dem
Tod nicht glauben.
Auch wenn man
selbst nicht religiös oder gar ein Gegner der Religion ist, ist man von der
Religion der Kultur, in der man aufgewachsen ist, geprägt und vererbt direkt
oder indirekt religiöse Wert- und Weltvorstellungen an die nächsten
Generationen weiter. Das ist unter anderem ein Grund dafür, wieso zum Beispiel
unter Migranten in den westlichen Ländern „plötzlich“ die Kinder religiöser
werden als ihre Eltern, oder wieso in den ehemals sozialistischen Ländern „plötzlich“
so viele Menschen an die Religion glauben, oder auch wieso in islamischen
Ländern „plötzlich“ so viele radikale Muslime gibt, die ihre Eltern in Religiosität
übertreffen.
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