Die Gruppe Boko
Haram wurde nach der Entführung von 276 Schülerinnen im Jahr 2014 international
bekannt. Die Terroranschläge dieser islamistischen Gruppe richten sich nicht
nur gegen nationale Polizei- und Militärzentren oder internationale
Institutionen wie UN, sondern haben auch Krankenhäuser, Schulen und sogar
Moscheen zum Ziel. Seit 2011 werden auch Selbstmordattentate von Boko Haram
durchgeführt. Im Jahr 2013 konnte die Gruppe 21 Bezirke im Nigerias Norden
unter seiner Kontrolle bringen. Die Frage, die sich fast jeder stellt, ist: Wie
kann eine so brutale und bestialische Gruppe die Bevölkerung unter seiner
Kontrolle bringen und große Menschenmengen für sich gewinnen? Auf diese Frage
gibt es sehr unterschiedliche Antworten. Manche glauben, die Armut sei die
Ursache dafür. Manch anderer glaubt, islamistische Terrorgruppen wie Boko Haram
seien von Westen „produziert“ und würden durch ihn weiter unterstützt und am
Leben erhalten. Bei der Erleuchtung der Ursachen der Entstehung und Zuwachs
islamistischer Gruppen gibt es aber auch
Versuche, die Sache vielseitiger zu betrachten und mehrere Faktoren in Betracht
zu ziehen. Das Buch „Boko Haram – Der Vormarsch des Terror-Kalifats“ (2015) von
Mike Smith zählt zu diesen Versuchen.
Obwohl Mike
Smith drei Hauptursachen für die Entstehung von Boko Haram verantwortlich macht,
nämlich die extreme Armut der nigerianischen Bevölkerung, Korruption ihrer
Machthaber und den Zerfall des nigerianischen Militärs, betont er, dass man bei
dieser Frage auch Nigerias Geschichte und kulturelle Faktoren betrachten
sollte. So behandelt er in seinem Buch auch die vor-
und nachkoloniale Geschichte von Nigeria und liefert zudem nützliche
Informationen über islamische und islamistische Bewegungen seit den 1960ern. Ich
versuche, all die Faktoren, die er für die Entstehung und den Zuwachs von Boko
Haram als ausschlaggebend sieht, hier kurz zusammenzufassen.
Im Jahr 1914
wurden Nord- und Südnigeria von den Briten zu einer einzigen Kolonie vereint,
mit den Grenzen des heutigen Nigerias. Mike Smith sieht die Vereinigung als eines
der Hauptprobleme Nigerias, da sich die beiden Teile in allen Aspekten voneinander
stark unterscheiden. Das heutige Nigeria besteht aus unterschiedlichen
„traditionellen Gesellschaften“ und Hunderte ethnische Gruppen. Dies erhöht das
Potential von ethnischen, regionalen und religiösen Konflikten. Im Süden des
Landes ist die Mehrheit der Bevölkerung christlichen Glaubens, während im
Norden die meisten Einwohner muslimischen Glaubens sind. Die Erdölvorkommen des
Landes befinden sich im Süden, was dazu beigetragen hat, dass es den Menschen
im Süden besser geht als den im Norden Nigerias. Im Süden gibt es mehr
Industrie, weniger Arbeitslosigkeit und Armut, und das Bildungsniveau ist dort
höher.
Das bedeutet
aber nicht, dass es dem Süden gut geht, auch dort herrscht Armut. Anfang des
20. Jahrhunderts hatten die Briten in Nigerias Infrastruktur investiert, um den
„Austausch von Menschen und Waren“ zu erleichtern. Sie bauten Straßen,
Eisenbahnen und Schiffwege. Dies half Nigeria, sich wirtschaftlich
weiterzuentwickeln. Aber einige Zeit nach dem Fund von Nigerias Öl in 1956 beschränkte
sich das Land wirtschaftlich nur auf die Ölproduktion und andere
Wirtschaftszweige wurden vollkommen vernachlässigt. Mike Smith betrachtet
diesen Zustand als eine der Hauptursachen für Armut und Arbeitslosigkeit in
Nigeria.
Eine andere
Hauptursache für Armut in Nigeria ist nach Mike Smith die Korruption seiner Machthaber.
Ein Großteil des Geldes, welches durch den Verkauf von Öl erzielt wird, fließt
in die Taschen der einflussreichen Politiker und Wirtschaftsmagnaten. Obwohl
das Land gewaltige Summen durch den Verkauf von Öl einnimmt, leben die meisten
Menschen in Armut und viele von ihnen haben sogar keinen Zugang zu
Elektrizität. Nigeria hat auch im Ölsektor nicht richtig investiert und muss
den größten Teil seines Treibstoffs bzw. Benzins einführen. Mike Smith macht
auf einige Fälle von Diebstahl durch nigerianischen Führer aufmerksam, die
zeigen sollen, wie korrupt das Land ist. In den 1990-ern hatte zum Beispiel der
Militärdiktator Sani Abacha mehrere hundert Millionen Dollar von der Zentralbank
des Landes gestohlen. Oder James Ibori, der vormalige Gouverneur des Delta-Bundesstaates
hatte 250 Millionen unterschlagen. Um sich aus den gegen ihn laufenden
Ermittlungen freizukaufen, hatte er in einem Beutel 15 Millionen Dollar
gestopft, die er an die zuständigen Personen weitergeben wollte. Dabei wurde er
aber erwischt.
Laut
Schätzungen beträgt der Diebstahl an nigerianischem Öl durch hochrangige
Militärs und Politiker 6 Milliarden Dollar pro Jahr. Die Summe der gestohlenen
bzw. verschwendeten Gelder seit Nigerias Unabhängigkeit im 1960 bis 2006 wird
auf über 360 Milliarden Dollar geschätzt. Während dessen lebt 63% der
Bevölkerung mit weniger als einem Dollar pro Tag. Diese Zustände haben dazu
geführt, dass die meisten Nigerianer glauben, Demokratie sei ein System, das
korrupte Politiker zu Reichtümern verhilft und den Rest der Bevölkerung in
Armut belässt, so Mike Smith. Er ist der Ansicht, dass hohe Arbeitslosigkeit,
politische Korruption und extreme Armut im Norden Nigerias den Nährboden für
islamische Extremismus bilden.
Aber Armut und
Korruption allein können nicht die Ursachen von Zuwachs islamischer Extremismus
sein. Mike Smith weist darauf hin, dass im Norden Nigerias, wo die meisten Einwohner
Muslime sind und wo Boko Haram entstanden ist, islamische Strenggläubigkeit
tief verwurzelt ist. Zudem kommt, dass dort noch feudale Strukturen herrschen. Die
Emire, eine Art muslimische Herrscher, haben zwar im heutigen Nigeria offiziell
keine Machtbefugnisse, aber sie beeinflussen weiterhin stark politische
Entscheidungen, zum Beispiel bei der Ernennung von Funktionsträgern oder bei
der Verteilung staatlicher Gelder. Der Sultan von Sokoto gilt auch heute noch
als höchste islamische Autorität in Nigeria. Auch er übt wie die Emire großen
Einfluss auf die Politik des Landes.
Islamistische
Bewegungen sind keine Neuheit in Nigeria. In Mike Smiths Buch ist von einer
islamischen „Reformbewegung“ namens „Gesellschaft zur Beseitigung von Ketzerei
und Errichtung der Sunna“ die Rede, die in den 1960-ern und 1970-ern die
Sympathie vieler gebildeter Muslime genoss. In
den 1970-er und 1980-er Jahren gab es in Nigeria eine islamistische Bewegung
unter der Führung von Muhammadu Marwa, die mehrere Unruhen verursachte, bei denen
über 4000 Menschen ums Leben kamen. Mike Smith schreibt, diese Bewegung
„bildete den Auftakt zum späteren Aufstieg von Boko Haram“. Zudem kommt, dass sich
viele Nordnigerianer seit den späten 1970-ern für die Islamisierung der Gesetze
einsetzten. Dort gab es bereits örtliche Scharia-Gerichte, aber der Norden
wollte auch ein Scharia-Revisionsgericht für ganz Nigeria schaffen. Dies führte
zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Christen und Muslimen. Im Jahr
1999 verlangten erneut die nördlichen Bundesstaaten, dass sich das Strafrecht
dem Scharia-Recht anpasst. In vielen Teilen Nordnigerias herrscht heute das
Scharia-Recht, aber Mike Smith weist darauf hin, dass es nicht immer umgesetzt
wird. Zum Beispiel seien viele wegen Ehebruch zum Tode durch Steinigung
verurteilt worden, aber „anscheinend“ seien diese Urteile später abgemildert
oder widerrufen worden. Im Jahr 2000 gab es mindestens zwei Fälle von
Amputation, einmal wegen Kuhdiebstahls und einmal wegen Fahrraddiebstahls.
„Boko Haram“
bedeutet „Westliche Bildung ist verboten“. Dieser Name „wurde der Gruppe von
außen gegeben“, da eines ihrer Hauptziele das Verbot moderner bzw. westlicher
Bildung ist. Die Gruppe selbst nennt sich „Menschen, die sich der Verbreitung
der Lehren des Propheten und dem Dschihad verpflichtet fühlen“. Eine andere
Ursache für den Aufstieg von Boko Haram sei die historisch
bedingte Unbildung breiter Massen in Nordnigeria, so Mike Smith. Im Norden
wurden einige gute Schulen von den Briten aufgebaut, aber man ließ die
Aktivität christlicher Missionare nicht zu, welche das westliche Bildungswesen
im gesamten Süden verbreiteten. Im Norden herrschte großes Misstrauen gegenüber
westlicher Bildung. Für die hohe Unbildung im Norden sei aber auch die Armut
verantwortlich. Mike Smith schreibt, dass vielen Familien das Geld fehlte, ihre
Kinder in die Schule zu schicken.
In der Stadt
Chibok, wo die 276 Schülerinnen von Boko Haram entführt wurden, hat kein
einziges Mädchen bis zu den 1960-er Jahren die Schule besucht. Der Zustand des
Bildungswesens im Norden Nigerias ist katastrophal, besonders für Mädchen. Im
Bundesstaat Borno zum Beispiel können nur circa ein Zehntel aller Mädchen über
sechs Jahre lesen und schreiben. Der nigerianische Durchschnitt für die Alphabetisierung
der Frauen liegt bei 47,7%. Im Süden liegt dieser Wert weit höher, zum Beispiel
in der Stadt Lagos bei 92%. Einige in dem Buch beschriebene Fälle lassen einen
vermuten, dass das Misstrauen gegenüber westlicher Bildung noch immer im Norden
Nigerias weitverbreitet ist. Zum Beispiel ist dort das Gerücht geläufig, die
Polio-Impfung sei eine Waffe des Westens gegen Muslime. Im Jahr 2013 wurden
zwei Kliniken, die sich für die Polio-Impfungen vorbereiteten, von mehreren
bewaffneten Personen beschossen. Dabei kamen zehn Menschen ums Leben. Bis heute
ist nicht klar, ob der Terror-Anschlag
Boko Haram zuzuschreiben ist oder nicht.
Einige im Buch
beschriebene Fälle zeigen, dass die nigerianische Gesellschaft extrem
gewaltbereit ist und dass dies historische Wurzeln hat. Bis Mitte des 19.
Jahrhunderts hatten Großbritannien und alle anderen europäischen Staaten die
Sklaverei abgeschafft und sie als verboten erklärt. Nigerianische Herrscher
waren aber gegen die Abschaffung der Sklaverei und dies führte zu blutigen
Kämpfen zwischen den Nigerianern und den Briten, wobei sich der schlimmste Fall
sich im Jahr 1897 ereignete, schreibt Mike Smith. In jenem Jahr forderte die
britische Regierung, dass auch die Tradition, Menschenopfer zu bringen, in
Nigeria abgeschafft werden musste. Das
heißt, in Nigeria wurde bis 1897 diese bestialische Tradition praktiziert, und
erst nach heftigen Kämpfen und der Niederlage der nigerianischen Streitmacht
haben die Nigerianer es widerwillig akzeptiert, die schreckliche Tradition von
Menschenopfer abzuschaffen.
Obwohl Mike
Smith sich in seinem Buch auf die Brutalität der nigerianischen Polizei und des
Militärs konzentriert und dies als eine weitere Ursache für die Unzufriedenheit
der Bevölkerung und den Aufstieg von Boko Haram
sieht, beschreibt er einige Fälle, die auf die extreme Gewaltbereitschaft der
nigerianischen Gesellschaft hindeuten. Einer dieser Fälle ereignete sich im
Jahr 2014, als ein Gesetz verabschiedet wurde, das die Homosexualität unter Strafe
stellt. Danach haben Scharia-Wächter im Norden angebliche Homosexuelle gejagt
und sie öffentlich ausgepeitscht. Die Zuschauermenge gab sich aber mit der
Auspeitschung nicht zufrieden und wollte, dass sie gesteinigt werden. Wie es
scheint, ist aber die Gewalt nicht nur unter den Muslimen weitverbreitet,
sondern auch unter den Christen Nigerias. Mike Smith berichtet von den blutigen
Auseinandersetzungen zwischen den Muslimen und Christen des Landes, die sich
nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2011 ereigneten. In dem Bundesstaat
Kaduna, der in Zentralnigeria liegt,
haben Christen Häuser von Muslimen niedergebrannt, sie erschossen oder
mit Macheten zu Tode gehackt. Kein Wunder, dass die Polizei und die Militärs
des Landes extrem brutal sind und Folter, Vergewaltigung und Mord an ihrer
Tagesordnung stehen. Der Autor weist auf einen Fall hin, in dem ein Gefangener
mitgesehen hat, «wie Soldaten versuchten, einen Häftling mit einer Rasierklinge
zu 'häuten'». Ein Großteil des Buchs beschäftigt sich mit den Gewalttaten der
Polizei und Militärs und ihrer Korruption.
Viele glauben,
Boko Haram sei kurz vor der Entführung der 276 Schülerinnen entstanden. Die
Anfänge von Boko Haram gehen aber auf das Jahr 2003 zurück. Mike Smith weist
darauf hin, dass die Gruppe noch eine nigerianische ist und keine multinationale,
obwohl sie Beziehungen zu islamistischen Terroristen aus anderen Ländern wie Mali,
Somalia, Kamerun, Tschad und Niger hat und einige ihrer Kämpfer dort von den
Dschihadisten ausgebildet worden sind. Wie der Name des Buches verrät,
beschäftigt sich der Autor überwiegend mit der Geschichte von Boko Haram und
seine terroristischen Aktivitäten. Aber er vermittelt auch ein umfassendes Bild
von der nigerianischen Gesellschaft und den Ursachen für die Entstehung von
Boko Haram, das einem auch dabei hilft, das Problem islamistischer Extremismus außerhalb
Nigerias Grenzen mit anderen Augen zu betrachten. Das Buch hat 288 Seiten.
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