In seinem Buch
„Das erschöpfte Selbst“ versucht Alain Ehrenberg die gesellschaftlichen
Ursachen der Depression zu beleuchten. Der französische Soziologe weist auf
bedeutsame Gegebenheiten hin, die nicht nur Menschen, die unter Depressionen
leiden, von Nutzen sind.
Im 20.
Jahrhundert habe die Zahl der an Depression leidenden Menschen drastisch
zugenommen, so Ehrenberg, und seit den 1970-ern habe sich die Depression zu der
am weitesten verbreiteten psychischen Erkrankung entwickelt. Ehrenberg sieht
diese Entwicklung im direkten Zusammenhang mit der Öffnung der Gesellschaften.
Das Individuum
sei nicht mehr dazu gezwungen, Traditionen zu befolgen und könne sich viel mehr
Freiheiten leisten, sei es in familiären und zwischengeschlechtlichen
Beziehungen oder in der beruflichen Karriere. Das Ziel des heutigen Menschen
bestehe darin, sich selbst zu finden. Die moderne Gesellschaft erwarte nicht
mehr von dem Individuum, dass es der Tradition und Religion Folge leistet,
sondern sehe die Hauptaufgabe eines jeden in der Selbstverwirklichung.
Im Gegensatz zu
vergangenen Zeiten, stehen dem Menschen viele Möglichkeiten offen und er allein
träge die Verantwortung dafür, sich für den richtigen Weg zu entscheiden. Dies
sei eine Last, die der moderne Mensch auf seinen Schultern trägt. Ehrenberg
zitiert Ludwig Wittgenstein: „es genügt nicht mehr, das Spiel gut spielen zu
können; sondern immer wieder ist die Frage: ist dieses Spiel jetzt überhaupt zu
spielen und welches ist das rechte Spiel?“
Die Freiheit
des Individuums, selbst sein Leben zu bestimmen, rufe das Gefühl von
Unsicherheit in ihm hervor. Auch die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen
bewirken oder bestärken diese Art von Unsicherheit. Mit den Veränderungen
werden immer wieder neue Möglichkeiten für das Individuum eröffnet und dieses
stehe ständig neuen Alternativen gegenüber. Der gesellschaftliche Druck zur
Selbstverwirklichung und die vielen Alternativen, die einem geboten werden,
belasten das Individuum. Nach Ehrenberg ist die Last, sich selbst zu sein, die
Hauptursache für Depression. Die Depression, so Ehrenberg, „ist der vertraute
Schatten des führungslosen Menschen, der des Projekts, er selbst zu werden,
müde ist“.
Die
gesellschaftliche Erwartung, immer erfolgreich zu sein, spiele auch eine
wichtige Rolle bei der Entwicklung von Depression. Die heutige Gesellschaft
erwarte von einem Individuum, dass es in allen Lebensbereichen erfolgreich sein
solle und sehe es verantwortlich für all seine Erfolge und Niederlagen. Dieser
ständige Druck könne zur Depression führen. Die moderne Gesellschaft vermittle
den Menschen die Illusion, jeder könne seinen Wünschen und Träumen nachgehen
und dabei auch erfolgreich sein. In der Praxis stoßen aber Menschen oft auf Hindernisse,
die Enttäuschungen verursachen. Das Gefühl der Unzulänglichkeit, so Ehrenberg,
sei ein wesentlicher Faktor bei der Entwicklung von Depression.
Obwohl das Buch
die Erwartung beim Leser erweckt, sich ausführlich mit den gesellschaftlichen
Ursachen der Depression auseinanderzusetzen, widmet der Autor nur 40-50 Seiten
dieser Fragestellung und befasst sich hauptsächlich mit der Geschichte der
Depression und ihrer Behandlung und den psychiatrischen Fachdiskussionen.
Schade, dass dieses Buch trotz seinen interessanten Themen und Thesen aufgrund
von langatmigen Fachdiskussionen für viele langweilig erscheint und die Lektüre
erschwert.
(März 2012)
Alain
Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart
Englischer Titel: The Fatigue of
being oneself - Depression and society
Französischer
Titel: La Fatigue d’être soi – dépression et société
.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen