Sonntag, 14. Juni 2015

Warum die Depression so weitverbreitet ist



In seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ versucht Alain Ehrenberg die gesellschaftlichen Ursachen der Depression zu beleuchten. Der französische Soziologe weist auf bedeutsame Gegebenheiten hin, die nicht nur Menschen, die unter Depressionen leiden, von Nutzen sind.

Im 20. Jahrhundert habe die Zahl der an Depression leidenden Menschen drastisch zugenommen, so Ehrenberg, und seit den 1970-ern habe sich die Depression zu der am weitesten verbreiteten psychischen Erkrankung entwickelt. Ehrenberg sieht diese Entwicklung im direkten Zusammenhang mit der Öffnung der Gesellschaften.

Das Individuum sei nicht mehr dazu gezwungen, Traditionen zu befolgen und könne sich viel mehr Freiheiten leisten, sei es in familiären und zwischengeschlechtlichen Beziehungen oder in der beruflichen Karriere. Das Ziel des heutigen Menschen bestehe darin, sich selbst zu finden. Die moderne Gesellschaft erwarte nicht mehr von dem Individuum, dass es der Tradition und Religion Folge leistet, sondern sehe die Hauptaufgabe eines jeden in der Selbstverwirklichung.

Im Gegensatz zu vergangenen Zeiten, stehen dem Menschen viele Möglichkeiten offen und er allein träge die Verantwortung dafür, sich für den richtigen Weg zu entscheiden. Dies sei eine Last, die der moderne Mensch auf seinen Schultern trägt. Ehrenberg zitiert Ludwig Wittgenstein: „es genügt nicht mehr, das Spiel gut spielen zu können; sondern immer wieder ist die Frage: ist dieses Spiel jetzt überhaupt zu spielen und welches ist das rechte Spiel?“

Die Freiheit des Individuums, selbst sein Leben zu bestimmen, rufe das Gefühl von Unsicherheit in ihm hervor. Auch die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen bewirken oder bestärken diese Art von Unsicherheit. Mit den Veränderungen werden immer wieder neue Möglichkeiten für das Individuum eröffnet und dieses stehe ständig neuen Alternativen gegenüber. Der gesellschaftliche Druck zur Selbstverwirklichung und die vielen Alternativen, die einem geboten werden, belasten das Individuum. Nach Ehrenberg ist die Last, sich selbst zu sein, die Hauptursache für Depression. Die Depression, so Ehrenberg, „ist der vertraute Schatten des führungslosen Menschen, der des Projekts, er selbst zu werden, müde ist“.

Die gesellschaftliche Erwartung, immer erfolgreich zu sein, spiele auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Depression. Die heutige Gesellschaft erwarte von einem Individuum, dass es in allen Lebensbereichen erfolgreich sein solle und sehe es verantwortlich für all seine Erfolge und Niederlagen. Dieser ständige Druck könne zur Depression führen. Die moderne Gesellschaft vermittle den Menschen die Illusion, jeder könne seinen Wünschen und Träumen nachgehen und dabei auch erfolgreich sein. In der Praxis stoßen aber Menschen oft auf Hindernisse, die Enttäuschungen verursachen. Das Gefühl der Unzulänglichkeit, so Ehrenberg, sei ein wesentlicher Faktor bei der Entwicklung von Depression.

Obwohl das Buch die Erwartung beim Leser erweckt, sich ausführlich mit den gesellschaftlichen Ursachen der Depression auseinanderzusetzen, widmet der Autor nur 40-50 Seiten dieser Fragestellung und befasst sich hauptsächlich mit der Geschichte der Depression und ihrer Behandlung und den psychiatrischen Fachdiskussionen. Schade, dass dieses Buch trotz seinen interessanten Themen und Thesen aufgrund von langatmigen Fachdiskussionen für viele langweilig erscheint und die Lektüre erschwert.


(März 2012)


Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart

Englischer Titel: The Fatigue of being oneself - Depression and society 

Französischer Titel: La Fatigue d’être soi – dépression et société

.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen